Andreas Kovacs

Zu jeder Kerwei, die in Bogarosch abgehalten werden soll, erreicht uns schon Wochen vorher eine Einladung. Beigelegt ist ihr immer auch die Liste mit allen Daten zum anstehenden Kerweibericht: wer die Vortänzer sind, die Geldherren, welche Musikkapelle aufspielt; beigelegt sind immer auch die Sprüche, die gesagt werden. Auch fehlt der Hinweis nicht, mit welchem Zug man am besten kommt - kurz, alles ist angeführt, was man wissen sollte, um für's erste eingeweiht zu sein. Auch wird mitgeteilt, dass "der Pressedienst der Kerweijugend" die Redakteure am Bahnhof erwartet. Es zeichnet: Lehrer i.R. Andreas Kovacs.


Und der "Pressedienst" ist dann auch wirklich zur Stelle - Lehrer Kovacs. Er ist's. Seit vielen Jahren hält er es schon so, und er führt die Gäste ins Dorf, klärt auf über das, über jenes, fragt, was es da und dort auf unseren Banater Dörfern noch gibt, und es ist ein helles Interesse dabei nicht zu verkennen. Immer aber schliesst er: "Gel, unser Bogarosch is doch scheen?!" Dann stellt er uns der Kerweijugend vor, dann aber muß er eiligst weiter, es gibt noch so manches zu tun, noch viele Gäste sind zu begrüßen... Es muß alles seine Ordung haben, und für die fühlt er sich mitverantwortlich. Seit wann den schon?



Ein Lehrer - ein Beispiel


"Ich bin seit 1909 in Bogarosch, seit 67 Joh bin ich do" begann er in seiner gefälligen Erzählweise mit der Geschichte seines Lebens, als wir ihn vor einigen Wochen besuchten. Zuerst wollte er nichts über sich sagen, doch als er über Bogarosch erzählte, kam er auch nicht ganz umhin, es doch zu tun. Seit 67 Jahren also, und tatsächlich gibt es in seinem Arbeitsbuch nur eine einzige Eintragung: Lehrer in Bogarosch. "Ich bin daher gekommen, ja, und damals waren 14 Kandidaten fir die Lehrerstelle im Dorf, aber nur einer hatte lauter Einsen im Diplom. So bin ich Lehrer wordn do in Bogarosch. Ich bin aus Pesak, war a armes Kind, hab awer doch Glick ghat! In Semiklosch war nämlich a Direktor in dr Birgerschule, ein gewisser Suck Anton, der hat so Fleh ghat, armi, begabti Kiner zu unterstitzn. De Schuldiener hat im August misse hausiere gehn fir arme Kinder. Aso, no hab ich sieben Häiser ghabt, jedn Tag hab ich woanderst gegessn, un so hab ich vier Jahre glebt in Semiklosch. Un ich bin immer prämiert wordn, und wie ich die vierte Klasse absolviert hab ghabt, hab ich 15 Kronen bekommen in Gold. Mit dem hab ich mich ein bissl angekleidet und bin nach Temesvar in die Lehrerpräprandie. Ich hab nitmal Geld ghabt fir die Bücher zahln!... Dann am 29.Juni 1909 hat der Direktor Josef Amberg die Diplome ausgeteilt und hat uns verabschiedet, so: "Ich entlasse Euch ins Leben, aber das eine, das müßt Ihr beherzigen: Ihr müßt dem Volk, in dessen Mitte ihr lebt dienen! Das Volk hat durch die Kinder zu Euch mehr Vertrauen als zu Richter und Notär!" - Un in dem Sinne hab ich gelebt, un leb heite noch. Ich hab nit nor for die Schul gearweit - for's ganzi Dorf!"

Lehrer Kovacs ist 87 und möchte in seinem Bogarosch im Kreise seiner Bogaroscher gern 100 werden, am liebsten sogar noch drüber. Wie viele Schüler durch seine Hände gegangen sind? Es werden wohl gut über 2000 sein. Aber er kennt jeden, wo immer er leben mag, er weiss, was aus jedem geworden ist, wie er lebt, er kennt das Schicksal jedes einzelnen und hat beigetragen, dass mancher vom Schicksal nicht niedergedrückt wurde.

Zwei Kriege hat er als Lehrer im Dorf erlebt, und was dabei nicht alles gesehen! "Ich war kriegsdienstuntauglich, ich bin dageblieben. Wenn was war sind die Leute gekommen: "Herr Lehre, was mache mer? Herr Lehre, was fange mer an?" Ich hab halt gsagt so oder so, hab sie beruhigt, hab sie getröstet, hab sie ermuntert. Aber wenn Trauernachrichten von der Front kamen - das war das Schwerste. Ich hab für die Mütter in zwei Kriegen Briefe ins Feld geschrieben, und die Leute haben das nicht vergessen, heute noch danken sie mir. Eine junge Frau ist mal verzweifelt zu mir gekommen und hat gebitt: "Herr Lehre, helft mer, ich mecht so gere mit meim Mann zammkumme, un wann's no een Tach is!" Also, ich hab gschrieb an sei Kommandant, un der hat ihm paar Täch Urlaub gebn. Na un no? No war aa bal um een Kind mehr im Dorf"



Eemol um de Äquator


Er hätte es auch leichter haben können, vor allem als die Zeiten der Kriegsnot vorbei waren, sagen die Leute im Dorf, denn nicht jeder Lehrer hat gehandelt wie er, selbst wenn er im Dorf geblieben war. Er hat es sich aber nicht leicht gemacht, weil er etwas auf sich genomen hatte und weil er, wie heute immer noch, ohne eine Aufgabe, ohne eine Mitverantwortung für die Gemeinschaft, in der er seit so vielen Jahren wirkt, nicht leben kann. Das kann kein leeres Wort sein.


Was tun Sie denn so den ganzen Tag über? frage ich. "Na bittscheen, zum Beispiel heit: Do setz ich fir'n Professor Bräuner etwas auf über Peter Strebl. Soll ich lese? Also: Peter Strebl, geboren im Jahre 1843 in Bogaroschund gestorben im Jahre 1916 im Alter von 73 Jahren. Er war in Bogarosch eine führende Persönlichkeit. Schon als 29jähriger war er im Jahre 1872 Richter der Gemeinde. Diese Stelle hatte er auch in Jahre 1884 inne. Er war ein Mitbegründer des Schwäbischen Landwirtschaftsvereins, und als im Jahre 1885 die Ortsgruppe dieses Vereins ins Leben gerufen wurde, wurde er als Präses gewählt. Wegen seiner Tüchtigkeit als Richter der Gemeinde und als Präses des Bauernvereins wurde sein Bildnis im Rahmen einer Feierlichkeit im Vereinslokal enthüllt. Asta-i, das ist eines. Dann hab ich noch zwei Gesuche zu mache fir ältri Leit, dann muss ich ins Dorf gehn..." Warum denn? "Na ich muß doch jede Tach eemol ins Dorf gehn, die Runde mache, mit die Leit rede, schaue was es noch gibt!"

Ich entsinne mich der Worte von Adam Haupt, einem Bogaroscher, Oberbuchhalter des SLB Grabatz; er hatte mal gesagt, dass "was de Kovacs-Lehre in seim Lewe gschrieb hat, geht bestimmt eemol um de Äquator rum!" Stimmt das? "Ich war Schriftfiehrer beim Bauernverein, Schriftfiehrer beim Gsangsverein, Schriftfiehrer beim Gewerbeverein, dann han ich do noch gholf, dort noch gholf... Awer hert doch mol uf, ich mich do jo lowe, un des brauch och doch net! Wer will sich dann wichtich mache? Ich nit, ja des un des han ich gemach un fertich!" Unvermittelt bricht er seine Mitteilungen über sich selbst ab, und nur über Umwege kommen wir wieder aufunser Gespräch zurück, als ich die Rede auf den "Pressedienst der Kerweijugend" bringe. Jetzt lacht er, wie er immer lacht, wenn von der Jugend oder den Kindern die rede ist. "Ja", sagt er, "das ist so meine Sache, jemand muß sich doch auch mit der Presse beschöftigen. Ja, un dann sin jo aa noch genuch anri Sache, mit dene sich jemand abgin muß im Dorf."


Freilich. Da ist zum Beispiel auch das Kriegerdenkmal in der Dorfmitte (sic!), das Mahnmal an die traurigsten Zeiten, die Marmortafel mit den Namen der Gefallenen im ersten Weltkrieg. "Nun haben wir auch eine Tafel mit den Namen der Gefallenen aus dem zweiten Weltkrieg angebracht", das sei die Gemeinschaft, wenn sie zueinander steht, ihnen und sich selbst schuldig, sagt er. Was waren das für Tage, als diese jungen Laute fort sind ins Ungewisse, an die Front, was waren das für Jahre, in denen die Briefe " Gefallen ... " eintraffen, erinnert er sich, und die Erinnerung tut ihm weh. "Alle waren sie meine Schüler hier im Dorf. Sehen Sie, ihre Eltern leben noch da, ihre Kinder ... aber wo ihre Gräber sind, wissen die meisten nicht... irgendwo muss ihrer doch gedacht werden. Wir glauben, dass da, in Bogarosch, wo sie zu Hause waren, da müßen wir ihre Namen auf das Mahnmal schreiben, auf dem auch die ihrer Väter und Großväter stehen." Und es sind nicht wenige, auch ihnen gilt die Sorge des alten Lehrers.



Ein Kapitel Dorfgeschichte


In welchem Bereich des Dorflebens ist er nicht präsent? Als er vor vielen Jahren in den Ruhestand trat, stellte er sich zur Aufgabe, das Gemeindearchivin Lenauheim für die Dörfer Lenauheim, Bogarosch und Grabatz zu sichten. Tausende, vielleicht Zehntausende Stücke Papier gingen durch seine Hände, wurden mit Interesse gelesen, mit Sachkenntnis übersetzt, mit Sorgfalt geprüft, geordnet und gehortet. Mehrere Jahre nahm diese Arbeit in Anspruch. Nun arbeitet er an seinen dicken Mappen, die täglich, stündlich, auf dem laufenden gehalten werden sollen. Was sind das? In ihnen ist all das Wissenswerte über das Dorf und über das Banat überhaupt verstaut, dem er im Alltag, in der Presse begegnet. Als erstes galt es, die vielen Informationen zur Dorfgeschichte den Bewohnern zugänglich zu machen. "Streiflichter aus der Gemeinde" steht auf einem Band, und was er enthält, ist tatsächlich eine Monographie. Er sagt: "Zum Beispiel", und beginnt im Kapitel "Kulturelles" zu lesen: "1895 fand die erste grosse Kulturveranstaltung statt. Vorher, gleich nach der Gründung von Bogarosch 1779 hat sich die Kulturtätigkeit in der grossen Rossmühle abgewickelt. Dort sind die Dorfbewohner zusammengekommen, dort haben sie zusammen Nachtmahl gegessen, die Frauen spannen und sangen, die Männer, die Jugend unterhielten sich auf ihre Weise, oft wurde aus der Zeitung vorgelesen, weil damals noch nicht jedes Haus eine Zeitung hielt. Es wurde sehr viel gesungen..." Vielen wird diese Information aus dem Dorfleben von früher neu sein. Wie diese aber finden sich noch unzählige bei Lehrer Kovacs festgehalten für die Leute von heute wie für die Nachwelt.

In einer anderen Mappe sind die Artikel, Reportagen und Berichte über Bogarosch und auch die schönsten über das Banat im ganzen untergebracht - für sich schon eine Monographie, die Geschichte unserer Tage. Eine weitere Mappe aber zeigt er mit besonderem Stolz, "Volksfeste" steht auf ihr geschrieben. Da ist alles drin, was - beispielsweise - über die Kerwei in Bogarosch in Bogarosch zu erfahren ist, ausserdem alle Nachrichten über Volksfeste im Banat, die in der deutschsprachigen Presse das Jahr hindurch erscheinen, sind enthalten, die Zahl der teilnehmenden Paar angemerkt und an jedem Jahresende die Gesamtziffer ausgerechnet; da sind Fotografien aus allen Dörfern, aus denen er welche erreichen konnte. Ihm gefällt die schwäbische Tracht, sie zählt zu den schönsten, die er überhaupt kennt! Und da sind auch die Kerweisprüche, von denen er weiss, dass sie in Bogarosch gesagt wurden, abgeschrieben. Aus einem zitiert er die letzte Strophe:


"Es gibt für uns nur eine Heimat,

die sei für alle Zeit bekannt:

Es ist Banat, der Ort Bogarosch,

an den uns kettet festes Band!"


Er begleitet mich bis ans Tor des kleinen Hauses, in dem er allein, seit vielen, vielen Jahren allein wohnt. Auf der Strasse hat er viele hundert vertraute Gesichter um sich, man grüßt ihn, man fragt ihn nach seinem Befinden, man wünscht ihm Gesundheit, man kommt zu ihm. Und in seinem Zimmer, in seinen Mappen hat er ganz Bogarosch von gestern und heute um sich, und in einer sogar das ganze Banat!

Weil man einander braucht


Oder Warum der Kovacs-Lehrer in Bogarosch 100 Jahre alt werden will


von Walter Konschitztky



Neuer Weg 08, April 1977

Sonntagnachmittag in Bogarosch, 1970er Jahre